Scheffelpreisrede von Victoria Kalig
Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gäste,
dieses Jahr hatte ich die Ehre, bei angenehmen Schwimmbadtemperaturen, die Scheffelpreisrede vorzubereiten.
Wie geht man jetzt mit dieser Aufgabe um? Ich habe mir vor allem überlegt, welchen Kern meine Rede beinhalten soll, welche Fragestellung sie im Besten Fall beantworten soll. Und nach 12 Jahren, die wir in der Schule verbracht haben, liegt es nahe zu fragen: Was hat uns die Schule wirklich gelehrt?
Oder anders formuliert: Was ist der Sinn der Schule?
Ich schätze mal, die Antworten würden in diesem Raum sehr stark variieren, vor allem zwischen Schüler*innen und Lehrkräften. Was macht man dann? Man befragt das ultimative Orakel namens ChatGPT. Und ChatGPT hat direkt drei Antworten geliefert.
Erstens: Wissen und Bildung.
Klar, Schule vermittelt fachspezifisches Wissen. Kenntnisse, die als Basis für folgende Studiengänge oder Ausbildungen dienen und das Wissen im Allgemeinen stärken sollen. Insbesondere wenn die Klausurenphasen lang und die Tiefschlafphasen kurz sind.
Doch wenn ich jetzt mal zu den Eltern schaue, frage ich: An welche Integrationsregeln erinnern Sie sich noch aus Ihrer Schulzeit? Oder wissen Sie noch, wie man den Konjunktiv II im Futur II im Deutschen bildet? Mit der Frage wäre auch der Bezug zum Deutschunterricht dieser Rede abgedeckt. Natürlich sind das Unterrichten und Lernen die Bestandteile, die uns mit als erste in den Kopf kommen, wenn wir über den Sinn der Schule nachdenken. Doch sie können nicht die einzigen sein.
Soziale Entwicklung: Der zweite Punkt, den ChatGPT als nicht über Emotionen verfügende KI benennt. Und das wirkt schon einleuchtend. Wenn es eines in der Schule zur Genüge gibt, dann sind das definitiv: Menschen.
Seit 12 Jahren verbringen wir jeden Wochentag in Zimmern mit Gleichaltrigen und lernen nicht nur vielleicht unsere zukünftigen besten Freundinnen und Freunde kennen, sondern auch, wie man mit Smalltalk krampfhaft Stille überbrücken kann. Das Skischullandheim in der 10. Klasse oder die Studienfahrt in Berlin haben uns als Stufe zusammenwachsen lassen. Wir haben unsere Mitschüler*innen bei verschiedenen gemeinsamen Unternehmungen kennengelernt: Seien es Ausflüge, Projekte, aber auch Spiel und Spaß – wie wir z.B. noch immer flüstern und lachen, wenn der Unterricht bereits läuft.
Wir haben gelernt, gemeinsam für Kommunikationsprüfungen zu zittern und nervös zu sein und vor allem haben wir gelernt, jetzt, wo unsere Abiturprüfungen bestanden sind, gemeinsam zu feiern.
Doch zu sozialer Entwicklung gehört auch dazu, entspannt darauf zu reagieren, wenn z.B. Frau Hafner mit ihrem euphorischen „MORSCHEE“ Schüler*innen mit ihrem Rollkoffer attackiert oder wenn Herr Lange erwartungsvoll auf eine Reaktion wartet, nachdem er stolz, als wäre es noch immer das erste Mal, betont: „De Nada … das war spanisch.“ Allein für diese beiden Episoden bitte ich um einen kurzen Applaus.
Das schulische Umfeld hat uns zu den Persönlichkeiten gemacht, die wir heute sind – jeder Tag hat uns geformt, jede Interaktion hat unsere sozialen Fähigkeiten geschärft und uns auf die Welt vorbereitet, die uns „da draußen“ erwartet.
Das bringt uns zur dritten Antwort von ChatGPT zum Sinn der Schule: Demokratie und Mitbestimmung:
Schule befähige uns dazu, unsere Meinungen zu äußern, andere Perspektiven zu respektieren und uns aktiv einzubringen. Schule befähige uns darüber hinaus, Bürger*innen zu werden.
Was heißt das?
Sicherlich lässt sich das nicht nur auf die Frage reduzieren, ob wir bei der letzten Bundestagswahl ein Kreuzchen setzen konnten oder ob wir ein paar Monate zu jung waren. Darum geht’s nicht am Ende des Tages. Bürger*in zu werden, ist so viel mehr. Unsere eigene demokratische Verantwortung geht darüber hinaus.
Im Leitfaden zur Demokratiebildung des Landes Baden-Württemberg steht unter dem Punkt „Bedeutung von Demokratiebildung“ ein Satz, auf den ich näher eingehen möchte: „Die Demokratie hat keine Ewigkeitsgarantie: Sie muss ihre Bürgerinnen und Bürger immer wieder erneut von sich überzeugen und für sich gewinnen.“
Und wo kann man damit besser anfangen als in der Schule?
Das Verhältnis von Lehrkräften zur Schülerschaft mag oft wie ein stark hierarchisches Gefälle vorkommen, doch im Kern handelt es sich hier um eine demokratische Institution. Es finden Schulsprecherwahlen statt, in der Schulkonferenz wird zwischen Eltern, Lehrkräften und Schüler*innen lebhaft debattiert und jede Schülerin, jeder Schüler hat die Möglichkeit, sich in der SMV, der Schülermitverantwortung, aktiv einzubringen.
Wir als Stufe haben Demokratie auch in unseren Abstimmungen zum Abimotto oder Abipulli gelebt. Nicht immer hat das alle zufriedengestellt. Es hat gezeigt: Demokratie mutet uns zu, Mehrheitsentscheide auch gegen die eigenen Interessen zu akzeptieren. Und darüber hinaus verlangt sie von uns, durchaus auch mal lange Diskussionen und Abstimmungen hinzunehmen, um am Ende zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Kurz: Demokratie ist nicht immer leicht.
Aber sie überzeugt uns dennoch und gewinnt uns immer wieder für sich. Zu ihr gehört auch die Freiheit: Die Freiheit, sich selbst zu bestimmen. Die Freiheit, politisch mitzuwirken, teilzuhaben. Die Freiheit, die eigene Meinung zu äußern. Und somit auch die Freiheit, vor staatlicher Willkür geschützt zu sein.
Ein gutes Stück unseres Weges haben wir bereits zurückgelegt: Kindergarten, Grundschule, Gymnasium und jetzt das Abitur. Jetzt stehen wir erneut vor einer Weggabelung und blicken auf ganz viele unterschiedliche Pfade, die wir betreten können. Wir wünschen uns genau das: Selbstbestimmung. Die Chance, unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen zu können.
Wir blicken mit Zuversicht nach vorne, weil wir unser Leben selbst gestalten wollen und können. Die Entscheidung, was wir mit der Zeit machen wollen, die auf uns wartet, liegt allein bei uns. Egal ob FSJ, Reisen, Studium, Ausbildung, Jobben oder einfach vom Lernen Erholen. Wir blicken optimistisch nach vorne.
Und das trotz einer Zeit voller Krisen: Der Rechtsruck, jüngste Angriffe auf Politiker*innen, der Ukraine Krieg, die momentane Aushöhlung der amerikanischen Demokratie, der Nahost-Konflikt und die Klimakrise sind alles Ereignisse, die nicht nur unser Verständnis von Demokratie, sondern auch uns als Generation begleiten und auf die Probe stellen.
Es ist verlockend, angesichts so großer Probleme in ein Schwarz Weiß-Denken zu verfallen. In ein Muster, in dem wir von „denen“ und „uns“ sprechen und dabei „die Schlechten“ und „die Guten“ meinen. Wir riskieren, Dinge zu vereinfachen oder zu einseitig darzustellen.
Aber die Schule hat uns das Werkzeug gegeben, eine eigene fundierte Meinung zu bilden und gleichzeitig abweichende Meinungen zu respektieren. Ich bin mir sicher, dass wir in unseren endlosen Doppelstunden nicht nur Ableitungsregeln oder den Aufbau von Zellen gelernt haben, sondern auch die Fähigkeit, konstruktiv miteinander zu diskutieren. Ideen und Meinungen auszutauschen. Vielfalt zu leben.
Das sind die Momente, in denen uns die Demokratie wieder und wieder für sich gewinnt. All die Lehrkräfte an dieser Schule und unsere Eltern haben uns über die Jahre viel mehr als nur Wissen mitgegeben, sondern uns schließlich zu Menschen gemacht, die mit einer freiheitlich-demokratischen Gesinnung ganz im Sinne der Verfassung diskutieren, überlegen und leben. Also auch dafür Ihnen allen vielen Dank!
Wir sind alle gespannt, was die Zukunft für uns bereithält.
Wir stehen vor individuellen Herausforderungen, zum Beispiel vor dem nächsten Vorstellungsgespräch oder der nächsten Bewerbung. Wir stehen aber auch vor gesellschaftlichen Herausforderungen, die drohen, uns zu spalten. In unserer Schulzeit gab es immer Differenzen, politisch wie zwischenmenschlich, aber auch Einigkeit.
Lasst uns gemeinsam nach dieser Einigkeit, nach Verbindendem und nach Gemeinsamkeiten in unserer Gesellschaft suchen.
Unsere Demokratie braucht uns mehr denn je.
Es ist nun auch an uns, andere Menschen für die Demokratie zu gewinnen und sie von ihr zu überzeugen – von Vielfalt, Respekt und Freiheit.
Mit dem Abschluss in der Tasche und dem Blick auf die unzähligen Weggabelungen vor uns gerichtet, bleibt uns nur noch, kurz auf unsere Schulzeit zurückzublicken und zu winken. Lasst uns mutig sein, optimistisch und demokratisch – und die Zukunft wird uns gehören!
Kunstwerk des Monats
Kunstwerk des Monats Oktober/ November: "Winterlandschaft" (Acrylmalerei) von Nina Kuhn (J2, 2-stündig)










